Bericht vom Vivere-Jahrestreffen 2024
Mit „stigmatisiert“ verbinden die meisten Menschen zunächst einmal Ablehnung und Ausgrenzung. Die negativen Assoziationen stellen sich daher auch bei der „Stigmatisation des hl. Franziskus“ ein. Verwundung, Schmerz und Leid sind Momente des Lebens, denen wir uns nicht gerne stellen und am liebsten ausklammern würden. Welcher Zugang lässt sich zum Phänomen der Stigmatisierung gewinnen? Gelingt es gar, positive Ansätze zu finden? In diese Zielrichtung verwies der Titel des Jahrestreffens der franziskanischen Bewegung Vivere, das vom 28.-30. Juni 2024 im Haus der St.-Georgs-Pfadfinder in Ebersburg-Röderhaid in der Rhön stattfand: „Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt“. Rund 30 Teilnehmende begaben sich auf Spurensuche, das Geschehen von vor 800 Jahren mit ihrem Leben heute zu verknüpfen.
In einem ersten Angang unter Moderation von Joachim Schick ging es um die historische Perspektive. Die beiden Franziskaner Cornelius Bohl und Stefan Federbusch stellten dar, wie sie die Stigmatisation ihres Ordensgründers Franziskus sehen und einordnen: Was hat Franziskus so ausgezeichnet, dass er mit den Wundmalen ausgezeichnet wurde? Als Stichworte seien hier Liebesgeschehen, Transformation, Rückbindung an den Anfang, Bestätigung der Berufung und der Ordensgründung, Stigmata als Tattoo Gottes und Christusförmigkeit genannt. Eine Leib- und Atemübung durch Veronika Möller ließ einen Moment innehalten, bevor es zu der Frage ging, welche Rolle die Stigmatisation von Franziskus für die Spiritualität und Lebensweise der Franziskanerinnen und Franziskaner in der Geschichte gespielt hat und heute spielt. Stichworte hier: Theologie der Erlösung („Durch seine Wunden sind wir geheilt“), Hinwendung zu den Stigmatisierten, Com-Passion, Wunden unserer Zeit, Solidarität. Nach einer Bildmediation von Bettina Wertmann schloss sich der dritte Aspekt an, was Stigmatisation für die christliche Spiritualität heute bedeuten kann, auch für Menschen mitten im Alltag. Genannte Umsetzungen: Zusammenhang von Liebe, Leid und Leidenschaft, Passion, Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte – Versöhnte Wunden.
In der Balance von früherer Leidverherrlichung und heutiger Wellness-Religion ist zu fragen, ob die Vulnerabilität (Verwundbarkeit) und Fragilität (Zerbrechlichkeit) des Menschen nicht doch ein Zugang sein kann auch zu Gott und Glaube. Sind nicht gerade Wunden mögliche Einfallstore Gottes? Nicht jedem Schmerz, nicht jedem Leid werde ich letztendlich einen Sinn abgewinnen können, nicht jede Wunde verheilt und bringt etwas Positives mit sich, nicht jede Trauer verwandelt sich am Ende in Tanz… aber all das gehört zu meiner Lebensgeschichte und prägt mich – auch leiblich! Innen und Außen korrespondieren da nicht nur bei Franziskus. Seelische Zustände als Ein-Druck zeigen sich häufig (psycho)somatisch als körperlicher Aus-Druck. Was mir unter die Haut geht, zeigt sich auf der Haut.
In einem zweiten Angang begegneten die Teilnehmenden einer „Stigmatisierten“, der Frau am Jakobsbrunnen. In einem Bibliolog – angeleitet von Andrea Bruns – wurden die verschiedenen Schichten und Deutungsebenen des Gesprächs von Jesus mit der Samariterin lebendig. Da gab es eine überraschte Frau, lebendiges Wasser, das plötzlich Konkurrenz bekam, neugierige Dorfbewohner und verwunderte Jünger. Da wurde einerseits Ausgrenzung verstärkt, andererseits Stigmatisierung aufgebrochen. Da wurden Einstellungen verfestigt und Haltungen verflüssigt. Da trocknete der Brunnen aus und lebendiges Wasser begann zu sprudeln… – wie im richtigen Leben.
In Bewegung brachte der dritte An-Gang mit einer Impulswanderung zur „Verletzlichkeit“. An drei Stationen wurden die Dimensionen der Sinne, Seele/Herz und Hand betrachtet und vertieft, was sie in Bezug auf Durchlässigkeit, Folgen und Ergebnis bedeuten. Eine Offenheit der Sinne führt zu Berührbarkeit und Verletzlichkeit. Eine Empfänglichkeit der Seele und des Herzens bewirkt Verwandlung und Heilbarkeit. Eine Bereitschaft zum Handeln zeitigt ein Engagement und hinterlässt heilsame Spuren. Der intensive Austausch zeigte, dass die äußeren Eindrücke auch innerlich bei den Einzelnen viel in Bewegung gebracht hatten.
In Bewegung kamen auch diejenigen, die beim Meditativen Tanzen mit Hiltrud Bibo das Geschehen in musikalischer und leiblicher Weise verarbeiteten. Das Motto des Wochenendes „Da hast du mein Klagen in Tanzen verwandelt“ fand hier seine konkrete Umsetzung. Sehr anschaulich wurden die verschiedenen Aspekte von „Verwundetsein“ bei denjenigen, die sich unter Anleitung von Stephanie Schaerer kreativ der japanischen Kunst des Kintsugi widmeten. Ein zerbrochenes Gefäß wird nicht nur wieder zusammengeklebt, sondern in seinen Nahtstellen vergoldet. Es gewinnt dadurch eine eigene Schönheit. Eine Erfahrung beim Gestalten war, dass sich die Scherben häufig nicht mehr ganz exakt zusammenfügen lassen, da durch die Klebenähte und kleine Verformungen am Ende zu wenig Platz bleibt. Ein Sinnbild für das oben Genannte, dass nicht jede Wunde verheilt. Narben bleiben, gewinnen aber ihre eigene Schönheit.
Auf dem Blatt zur persönlichen Reflexion war vermerkt: „Das Leben hinterlässt an uns solche Gebrauchsspuren. Möglicherweise erleben wir sie als Schönheitsmängel, aber diese Spuren machen uns einzigartig und unverwechselbar. Sie prägen uns, sind Teil unserer Identität. Ohne diese Spuren wären wir jemand anders. Eigentlich sollten wir achtsam damit umgehen, aber oft übersehen oder verstecken wir sie.“ Spannungen bleiben, bittere Realitäten sind nicht wegzudiskutieren und zu verharmlosen. Doch dem ein oder der anderen hat die Auseinandersetzung mit dem zunächst sperrigen Thema der Stigmata zu einer größeren Gelassenheit verholfen im Umgang mit den eigenen (Lebens)Wunden und den Wunden anderer. Da, wo ein Raum des Vertrauens entsteht, ist es leichter möglich, meine eigene(n) Wunde(n) zu zeigen und zu spüren, dass im Austausch etwas Heilsames entsteht. Verletzungen zudem vor den verwundeten Arzt und Heiland Jesus zu bringen, kann dazu führen, dass ich selbst zum Heil-Land werde, in dem Andere die zärtliche und heilsame Nähe Gottes erfahren.
Bereits im Morgenlob von Veronika Möller hatte es geheißen: „Lass dich besiegeln mit dem TAU und wisse, dass es ein Zeichen ist, das dir von Gott her zukommt, ein Siegel, das der Herr dir eingedrückt hat: Du bist gerettet, erlöst – befreit zum Leben. Weil Jesus für dich am Kreuz gestorben ist, weil er aus dem Grab erweckt wurde, kannst du leben! Eine unverrückbare Zusage des lebendigen Gottes.“ Diese Zusage wurden allen beim Gottesdienst persönlich mit Salböl auf die Stirn gezeichnet als Zusage: Du bist Gottes geliebter Mensch. Damit verbunden ist der Auftrag der Sendung: „Auf geh und verkünde seine Botschaft der ganzen Schöpfung! Erzähle den Menschen von seinem froh machenden Wort, schaffe Werke von Gerechtigkeit und Frieden, vor allem aber tu eins: Lebe! Lebe als erlöster Mensch, als Mensch, der weiß, dass es gut ausgeht, als Mensch, der strahlt, weil Gott ihn liebt.“
In der sonntäglichen Liturgie war der Tisch des Wortes reich gedeckt und wurde unter der Leitung von Dieter Bruns miteinander geteilt: Zu einem gezogenen biblischen Wort konnte jede/r ein Teelicht entzünden und einen Dank sagen. Auch eine Form der Eucharistie – Danksagung. Für sein Wort des Lebens für jeden Menschen, für die Vielfalt der Gaben, Talente und Charismen, für Vivere – ein Leben aus franziskanischer Inspiration.
Als franziskanisch gesinnte Menschen tragen wir (Lebens)Wunden. Auch wenn wir nicht stigmatisiert sind, wissen wir uns von Gott geliebt. Sein Tattoo für uns ist nicht die Stigmatisation, aber das Siegel des TAU, das Zeichen des Segens. Du bist gesendet: lebe und liebe!
Mit dieser neuen Ein-sicht, dass es sich gelohnt hat, sich auf das unbequeme Thema der „Stigmatisation“ einzulassen, wurde allen die Aus-sicht eröffnet, mit den gewonnenen Erkenntnissen einen hilfreichen Zugang zum Umgang mit Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit gewonnen zu haben. Mit einem liebenden Blick und mit zugewandter Offenheit durch die Welt zu gehen, wird zu der ein oder anderen Wunde führen, aber nur so wird heilsame Begegnung ermöglicht.
Der Dank gilt insbesondere den Mitgliedern des Vorbereitungsteams, die mit großem zeitlichem Engagement und viel Herzblut das Wochenende vorbereitet haben. Und allen, die vor Ort durch viele praktische Tätigkeiten wie das Bereiten der Mahlzeiten, Spül- und Putzdienste zum Gelingen beigetragen haben.
Das nächste überregionale Vivere-Treffen wird im kommenden Jahr vom 24.-26. Oktober zusammen mit der ganzen Franziskanischen Familie zum 800jährigen Jubiläum des Sonnengesangs in Münchsteinach bei Würzburg gefeiert.
Schon jetzt: herzlich willkommen!
Br. Stefan Federbusch