„Brich dir ein Loch in die Mauer!“

Bericht vom INFAG-Mattenkapitel in Ellwangen

Ein ungewöhnlicher Titel. Wer ist da angesprochen, der sich ein Loch durch die Mauer brechen soll und von welcher Mauer ist da die Rede? Und was hat das Ganze mit den Schwestern und Brüdern der Franziskanischen Familie zu tun, die vom 23. bis 25. März 2025 zu einem Mattenkapitel auf den Schönenberg bei Ellwangen eingeladen waren?

Das Motto des INFAG-Mattenkapitels

Die Aufforderung ist biblischer Natur. Im Buch Ezechiel fordert Gott den Propheten auf, eine Zeichenhandlung für das Volk („Haus der Widerspenstigkeit“) zu setzen. In Kapitel 12 erhält Ezechiel die Weisung, ein Loch in die Wand seines Hauses zu schlagen und mit seinem Gepäck hindurchzusteigen. Eine Szene, wie sie der Maler und Priester Sieger Köder, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, ins Bild gesetzt hat. Das Vorbereitungs- und Koordinationsteam bestehend aus Franziska Bruckner (A), Klara Diermeier (A), Nadia Rudolf von Rohr (CH), Beatrice Köhler (CH), Regina Poster (D), Josef Fischer (D) und Natanael Ganter (D) hat das Stichwort der „Mauer“ inspiriert, das als Synonym für unsere derzeitige gesellschaftliche und politische Situation stehen kann.

70 Teilnehmende aus Deutschland, Luxemburg, Schweiz und Österreich waren versammelt

„Der Herausforderungen in unseren Gemeinschaften, in Kirche und Welt sind viele. Nicht selten stehen wir dabei vor vielfältigen Mauern, auch vor inneren. Es gilt, den Blick vor der Realität nicht zu verschließen, und trotzdem nicht in Resignation zu verfallen. Wir brauchen Eigeninitiative und kreative Handlungsansätze, damit sich neue Perspektiven eröffnen. Die Aufforderung, «ein Loch in die Mauer zu brechen», sagt nicht wo, nicht wie, nicht mit wem – sie lässt vieles offen. Mit Verstand und Überlegung, selbstbewusst, ein Loch brechen und sehen, was sich anbietet – sich einlassen auf Unbekanntes. Nicht alles festlegen, sondern dem Leben trauen.“

Mit diesem Ausschreibungsimpuls war zunächst einmal vieles offen, das durch Impulsreferate und Workshopvertiefungen gefüllt wurde. Alle Teilnehmenden waren gebeten, einen Stein mitzubringen, der beim bewegten Einstiegsimpuls auf einer Weg-Bahn abgelegt wurde und am Ende der Veranstaltung wieder mitgenommen werden konnte, um die Impulse vor Ort umzusetzen.

Zum Einstieg entsteht ein Weg aus mitgebrachten Steinen

Den ersten Input steuerte Dr. Martina Kreidler-Kos mittels Zoom-Übertragung bei, indem sie danach fragte, wie es gelingen kann, auch in scheinbar ausweglosen Zeiten handlungsfähig zu bleiben und da, wo die Spielräume immer enger werden, über die Mauer zu kommen. Dazu entfaltete sie 5 Stichworte aus dem Leben von Franziskus und von Klara. Aus der Erzählung von Franziskus von der vollkommenen Freude leitete sie das Stichwort Geduld ab, aus dem Zusammenstoß von Klara mit Papst Gregor IX. und aus dem Militärischen Überfall auf San Damiano das Stichwort Konfrontation, aus der Sterbephase von Klara das Stichwort Dank, aus der Frage von Franziskus an Klara und Silvester nach seiner Berufung und zukünftigen Schwerpunktsetzung das Stichwort Gegenseitige Hilfe und aus der Entstehung des Sonnengesangs das Stichwort Gebet.

Fragen zur persönliche Reflexion dazu waren: Weiß ich mich als geliebter Mensch Gottes und was verleiht mir diese Sicherheit? Wo suche ich die Konfrontation und was nehme ich dazu mit? Wofür bin ich dankbar? Weiß ich um Menschen, die mir unbedingt zur Seite stehen? Wer betet für mich und für wen bete ich? Was kann ich ins Wort oder in die Tat bringen vor Gott?

Dr. Cornelius Bohl interpretierte im zweiten Input das Loch-in-die-Mauer-schlagen als wichtigen Prozess und bleibende Dynamik, das Dazwischen auszuhalten zwischen „schon“ und „noch nicht“, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Mit Blick auf die Lebensgeschichte von Franziskus akzentuierte er fünf Aspekte. Unter dem Schlagwort „Nichts wie raus!“ fasste er die Risse, durch die Licht einfällt (vgl. „There is a chrack in everything“ von Leonhard Cohen), das brutale Rausgestoßenwerden (Stichwort Aussätzige), das Exire de Saeculo (Verzicht auf das Erbe und die Dazugehörigkeit zur reichen Bürgerschicht), das Immer wieder rausgehen und Grenzen überschreiten (Wolf von Gubbio, Räuber in Monte Casale, Vollkommene Freude, Begegnung mit dem Sultan), Provozierender Aussteiger (Franziskus provoziert durch Nacktheit und seine Brüder als Bettler). Auf die Frage „Raus aus dem Alten – aber wohin?“ lautete das Ziel Jesus Christus. Der „neue Narr in dieser Welt“ brauchte eine neue Form, das Seine zu leben. Daraus ergab sich als weitere Frage, ob sich das, was ein Einzelner für sich als richtig erkannt hat, institutionalisieren lässt? Der dritte Aspekt „Einübung für Ausbrecher“ beschrieb vier miteinander verzahnte Möglichkeiten: Eine transitorische Existenz als Lebensform, etwas auszuprobieren, provozierende Begegnungen wagen sowie auf den Ruf (Gottes) zu hören. Der vierte Aspekt griff die oben genannte Deutung auf, das „Dazwischen“ auszuhalten und Schwellenräume zu gestalten. Franziskus hat sich immer wieder in die Einsamkeit zurückgezogen. Es braucht Gärungsräume, in denen Neues wachsen kann. Der fünfte Aspekt stand unter dem Schlagwort „Kriech wieder zurück, Ezechiel!“ Es gelte, Grenzen zu akzeptieren, um nicht in Allmachtsphantasien zu verfallen (Mindere sein und bleiben), nicht hinauszugehen aus dem Raum des Gehorsams und des Katholischen und der Ausbruch darf keine Flucht sein (vgl. Brief an einen Minister).

Abschließend verwies der Referent auf den Untertitel „Was bleiben will, muss sich wandeln“. Eine Wandlung geschieht eher sanft, das Loch-in-die-Wand-schlagen ist dagegen gewaltsam. Heute erleben wir nicht Wandel, sondern Abbruch und Umbruch und die Frage ist, was das für uns heißt?

Die Teilnehmenden hatten Gelegenheit, am Vor- und Nachmittag je ein Workshop-Angebot zu besuchen. Im Workshop 1 mit Bruder Stefan Federbusch unter dem Motto „Mein Engagement befragen“ ging es um die Auflösung von Handlungsblockaden und die persönlichen wie gemeinschaftlichen Beiträge in Bezug auf die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche sozial-ökologische Transformation, um unser Engagement in den Wandlungsprozessen, die unsere Menschheit braucht, um zukunftsfähig zu sein. Im Workshop 2 mit Schwester Edith-Maria Magar unter dem Motto „Mach den Raum deines Zeltes weit“ (Jes 54,2) – «wirkungsvoll handeln ohne Privilegien» ging es um immer neue Verordnungen, gesetzliche Rahmenbedingungen und kirchenrechtliche Vorgaben, die unsere Handlungsspielräume zunehmend einengen und die Möglichkeiten, „heilige Mauern“ zu durchbrechen. Im Workshop 3 mit Bruder Bernd Beermann unter dem Motto „Blumen sprengen Mauern“ erfolgte eine Besinnung auf das Wesentliche und ein Austausch über die Kraft des Wenigen. Dies anhand des ersten Kapitels des Stundenbuches „Das Wenige und das Wesentliche“ von John von Düffel. Im Workshop 4 unter dem Motto „Franziskanische Quellen konkret“ mit Bruder Cornelius Bohl wurden verschiedene Geschichten über Franziskus beleuchtet, die etwas mit Rand zu tun hatten: der gesellschaftliche Rand der Aussätzigen, der kirchliche Rand, der christliche Rand der Begegnung mit dem Sultan und der Rand des Normalen im Umgang mit den Räubern. Im Workshop 5 mit Schwester Franziska Bruckner hatten auch Menschen, die nicht analog vor Ort teilnehmen konnten, die Möglichkeit, sich virtuell auszutauschen. Neun Personen nutzten diese technische Option.

Der dritte Input als Transfer in den Alltag erfolgte durch Dr. Erny Gillen. In einem ersten Schritt griff er die Kontexte von Europa und Welt auf und verwies exemplarisch auf den kirchlichen Umbruch des II. Vatikanischen Konzils und den gesellschaftlichen der Studentenrevolution. Welche Um- und Durchbrüche habe ich bereits erlebt? Die persönliche Besinnung zeigte auf, dass ich Veränderungen „überlebt“ habe und ich solche mitgestalten kann. Im zweiten Schritt erläuterte er die „Franziskusformel“, dass die Wirklichkeit mehr wert ist als die Idee. Wir schaffen Wirklichkeit, die es ohne uns nicht gäbe. Die Frage ist, wie wir die Spannungen zwischen verschiedenen Polen nutzen, um in Bewegung zu kommen und zu bleiben. An Stelle des Prinzips Sehen – Urteilen – Handeln könnte das südamerikanische Prinzip von begleiten (acompagñar), unterscheiden (discernir) und integrieren (integrar) stehen. In einem dritten Schritt akzentuierte er einige Stichworte aus den vorhergehenden Referaten (handlungsfähig sein, sprachmächtig sein, Aussteiger sein als strategische Angelegenheit, Spieler / Experimentator, Pilger / Unterwegs sein, Fremdling / Erkunder sein…). Ziel ist es, das Leben als Sakrament zu leben für das Leben der Welt im Sinne einer Pro-Existenz. Erny Gillen schloss seinen Beitrag mit einem weiteren Bild von Sieger Köder, das einen Messdiener beim Stabhochsprung zeigt, wie er eine Mauer überspringt. Es visualisiert das Psalmwort „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“. Wenn es nicht hindurchgeht, dann hoffentlich darüber hinweg.

Die Zielperspektive im Sinne einer jesuanischen Pro-Existenz

Für die Schlussrunde waren alle gebeten, ihren Stein aus der Mitte wieder in die Hand zu nehmen und zu schauen, wofür der Stein für die Schritte daheim stehen könnte. Einige Antworten waren:

  • Berufung zur Pro-Existenz
  • Erinnerung an die Handlungsanweisung Begleiten-Unterscheiden-Integrieren
  • Der Weg entsteht im Gehen
  • Erinnerung an die Löcher, aus denen ich gekrochen bin
  • Den Durchbruch wagen
  • Nicht mit dem Kopf durch die Wand
  • Die Sollbruchstelle finden
  • Zusammen aus vielen Steinen eine Brücke bauen, um Mauern zu überwinden
  • Was ist das wesentliche für mich und Andere
  • Die Wirklichkeit hat Vorrang vor der Idee
  • Bewusst sehen – hören – handeln
  • Nicht am Früheren hängenbleiben, sondern Neues wagen
  • Ideen können Wirklichkeit werden
  • Nach dem Durchbruch auf Licht hoffen
  • Den Stein ins Rollen, in Bewegung bringen
  • Mich als lebendigen Stein begreifen und auferbauen lassen

Der abschließende Liedvers „Bonum est confidere in Domino“ brachte zum Ausdruck, dass es gut ist, auf den Herrn zu vertrauen und auf Gott zu hoffen. In diesem Sinne sind wir im Heiligen Jahr 2025 als Pilger:innen der Hoffnung unterwegs.

Der Dank insbesondere auch an das Vorbereitungsteam floss ein in die Feier der Eucharistie, die das Festgeheimnis „Maria Verkündigung“ beinhaltete. Der Zelebrant Josef Fischer verwies auf das entsprechende Bild in der Portiuncula-Kapelle in Assisi und jenes, das sich in der Hauskapelle des Tagungshauses befindet.

Dankbar für Begegnung und vielfältige franziskanische Impulse

Die 70 Teilnehmenden bildeten die Buntheit der Franziskanischen Familie ab. 51 kamen aus Deutschland, 8 aus Österreich, 6 aus der Schweiz und 5 aus Luxemburg. 55 waren weiblich, 15 männlich. 55 waren Ordensleute, 15 kamen aus dem OFS oder anderen franziskanischen Kontexten. Sie äußerten den Wunsch, dass bei allen Veränderungsprozessen und der bevorstehenden Änderung der Struktur der INFAG es auf jeden Fall ein weiteres internationales Mattenkapitel geben sollte.

Die Herausforderungen in Orden, Kirche und Welt bleiben. Die Mauern werden nicht weniger. Der Prophet Ezechiel sollte eine Zeichenhandlung setzen für Andere. Geht von unserem franziskanisch inspirierten (Ordens)Leben ein Zeichen aus? Ist es (noch) von Leidenschaftlichkeit geprägt? Ist es im guten Sinne eine Pro-Vokation? Eine Pro-Existenz? Vermutlich sind wir nicht ganz so enthusiastisch wie Franziskus, der sich auf die gleichlautente Antwort von Klara und ihren Schwestern sowie Bruder Silvester, welchen Weg er zukünftig einschlagen solle, „glühend vor Eifer erhob… als hätte er eine neue Kraft vom Himmel erhalten“ (LM XII, 2.8), aber eine Kraftquelle und Ermutigung war die geschwisterliche Begegnung allemal.

Text und Bilder: Br. Stefan Federbusch